B Ü C H E R L I E B E

Beim Lesen und Vorlesen passiert ganz viel im Kopf. 

Aus zeitlichen Gründen sollte es leider nur ein „elektronisches Treffen“ mit Dr. Anja Johannsen für die USCHI werden. Es dauert allerdings nur einige Minuten vor dem Monitor, bis alle mögliche Voreingenommenheit einer promovierten Literaturwissenschaftlerin gegenüber abgelegt waren und man sich wünschte, mit dieser so offenen, charismatischen Frau lieber in einem Café oder einer Bar beim süffigen Rotwein sitzen zu können. Die Stunden verflogen nur so, während wir über ihre Leidenschaften plauderten. Den lebendigen Literatur-Eventbetrieb, Geschichten, Bücher und die Möglichkeiten, Menschen dafür zu begeistern. Wie sehr ihr Herz für das Literarische Zentrum und Göttingen schlägt, ob sie selbst den Platz in der Jury des Deutschen Literaturpreises als „Ritterschlag“ empfand und worauf sie sich jetzt am meisten freut, hat sie uns gern verraten.

Es ist die Zeit des bewegten Bildes, der Influencer-Filmchen, Podcasts und vielem zum selbst Berieseln mehr. So könnte man meinen, das gute alte Buch hat es schwer. Zum Glück halten sich die echten Freunde des Buches hartnäckig, wird das Blättern in warmen Seiten aus Papier niemals mit dem Benutzen eines elektrischen Mediums vergleichbar sein. Dazu reißt die Flut der Neuerscheinungen von guter Lektüre aller Art nicht ab. Und der hiesige Buchhandel bestätigte uns, dass gerade junge Menschen viel Wert auf ein echtes, schmuckes Buch legen und gern Geld dafür ausgeben. Die älteren Leser sind es übrigens, die sich mit einem Taschenbuch begnügen. Die Hoffnung stirbt also zuletzt. Ein Leben ohne Buch ist gewiss etwas, das sich auch Anja Johannsen nicht vorstellen kann. Die Frage nach den drei wichtigsten Dingen für die einsame Insel wird überflüssig. Ihre Familie und die Literatur, Menschen zusammen bringen, Gastgeberin sein und zeigen, was Worte und das Erzählen bewegen können, das bringt Johannsens Augen zum Funkeln. Sie selbst bestätigt zwischen den Zeilen, dass sie allen Grund hat glücklich zu sein, fühlt sich ihre Arbeit oft – wenn auch viel Theoretisches und Pflicht dabei ist – nicht wie Arbeit an. 

Die Ausstrahlung einer „Macherin“ hat sie sich erst in Göttingen erarbeitet, war sie doch früher eher scheu, sagt sie, ohne dass man das heute noch so recht glauben möchte. 

„In der Uni lernt man ja nichts über das ,Macherinnen-Tum‘, aber ohne das geht es ja in diesem Job nicht und ich glaube, es klappt jetzt ganz gut,“ 

schmunzelt sie. Die Frage, wo bei ihr selbst diese große Liebe zur Literatur wohl ihren Anfang fand, kann sie gleich beantworten. „Meine Mutter war eine echte Leseratte. Sehr wahrscheinlich bin ich eine der Töchter, in denen sich der Traum der Mutter erfüllte.“ 

Das kann eine Bürde sein, gibt sie noch zu bedenken. In ihrem Fall war das erfreulicherweise nicht so. Kam es dann vor über 10 Jahren zum Sprung aus der wissenschaftlichen Arbeit heraus in die Geschäftsführung des Literarischen Zentrums. Anja Johannsen ist heute sehr verwurzelt mit der Stadt und Göttingen ist ihr zu Hause geworden. Die Möglichkeit, nicht nur in leitender, sondern vor allem auch in kreativer Funktion arbeiten und als Kulturschaffende die Region mitgestalten zu dürfen, erfüllt sie sichtlich. So, wie es aber in der Bücherindustrie keine Auszeit gibt, sind auch die Zeiten, in denen ihr Geist wirklich „frei“ hat, eher selten. „Wenn der Urlaub beginnt, dann beginnt für Menschen wie mich eben auch das Lesen“ lacht sie, denn gelesen wird ja im Grunde täglich. 

„Ich sichte laufend Material, lasse mir von den Verlagen erzählen, was es Neues gibt und lese die Bücher dann alle an. Nach 30, 40 Seiten kann ich einschätzen, ob es für uns das Richtige ist. Auf dieser Grundlage erstellen wir dann das Programm für das Zentrum. Ja, und dann kommt schon das nächste Buch, und das nächste und das nächste …“ Was ein bisschen nach „walle, walle“ und einem Fluch vom Hexenmeister klingt, ist für Anja Johannsen und ihr Team das tägliche Brot. Denn während wir im Herbst miteinander sprechen, werden hintergründig das Programm für den Frühling auf die Beine gestellt und Lesungen organisiert. 

Mittels Literatur zu unterhalten und zu fesseln ist ihr genauso wichtig, wie Hemmschwellen abzubauen. Ein Erwachsenen-Programm zu gestalten ist sicher immer wieder spannend. Aber besondere Aufmerksamkeit soll auch weiterhin auf den  Kinderprogrammen und -projekten liegen. Wir sind uns einig: 

Beim Lesen und Vorlesen passiert ganz viel im Kopf. 

Es öffnet Türen in andere Welten, fördert die Fantasie und Kreativität. Lesen gibt ein Gefühl von Freiheit und Geborgenheit. Im besten Fall macht es Mut, schenkt Selbstvertrauen, lässt dich sicher sein, dass es immer irgendwie weitergeht. „Mit unserem Kinder- und Jugendprogramm kann ganz viel angestoßen werden. Seit einigen Jahren schicken wir zum Beispiel Autor*innen und Schauspieler*innen an die Schulen, um sie dort vorlesen zu lassen. Wir können mit einfachen Mitteln nachholen und leisten, was die Schulen aus verschiedenen Gründen nicht auffangen können, aber doch so wichtig ist. Dabei werden selbstverständlich alle Schultypen bespielt. 

Es ist einfach wichtig, dass alle Kinder an Bücher herangeführt werden.“ 

Wie holt man aber Kinder ab, die von Haus aus hauptsächlich mit dem Smartphone und PC verwachsen sind? „Es macht keinen Sinn, sich gegen die Digitalisierung zu wehren. Man sollte sie sich zu Nutzen machen, kann mit den digitalen Medien doch so viel Gutes bewegen. Zum Beispiel im Projekt rund um literarisches Schreiben, dem ,Weltenschreiber‘ für Kinder und Jugendliche, konnten die Kolleginnen den Lehrkräften so viel Hilfsmittel an die Hand geben, die den Austausch und die Kommunikation möglich machten, dass selbst in Zeiten der Pandemie keine Veranstaltung ausfallen musste. Wir möchten zeigen, dass wir mitdenken, die Digitalisierung mitmachen, Lehrerinnen und Lehrern gern hilfreiche Unterstützer sind.“ So kam es zum Beispiel, dass nötiges Know-how erarbeitet und an die Lehrkräfte weitergegeben werden konnte, Projekte ins Digitale verlegt, Lehrkräfte in der technischen Einrichtung des Klassenzimmers unterstützt wurden und problemlos die Schreibwerkstatt oder Lesung mit zugeschaltetem Autor stattfinden konnte. Sicher kann man gar nicht früh genug damit beginnen, Kindern die magische wie lehrreiche Welt der Literatur zu eröffnen. Der erste Schritt könnte der Besuch oder ein Mitgliedsausweis für die Stadtbücherei sein. Hier lässt sich ganz nach persönlichem Interesse ausleihen, was man nicht gleich selber kaufen muss. Unersetzlich ist aber sicher die Unterstützung des Eltern und Großeltern, welche die Kindern an die Hand nehmen sollten. 

„Man kann Eltern oft ein gewisses Desinteresse nicht verdenken, haben sie ja oft zu Schulzeiten keine guten Erfahrungen mit Literatur gemacht. Welcher Teenie mag schon Texte aus dem 18. Jahrhundert? 

Literatur muss dem Alter angemessen und spannend sein“ zeigt sich Johannsen auch hier verständnisvoll. Worauf sie sich selbst gerade am meisten freut, ist klar. „Endlich die Türen vom neu geschaffenen Literarischen Zentrum im ,Nikikiez‘ ganz weit aufmachen und Menschen jeden Alters darin willkommen heißen können.“ 

Im quirligen Göttinger Nikolaiviertel laufen derzeit die Bauarbeiten im großen, weiß getünchten Stadthaus noch auf Hochtouren. In Anja Johannsens Visionen hat bereits alles seinen Platz gefunden, reichen die Fenster des Erdgeschosses längst bis an die Erde, sodass großzügige Aushänge zum Programm alle vorbeischlendernden Passanten erreichen können und vielleicht duftet es auch nach frischem Kaffee und Tee. Der Umzug aus der „Düsteren Straße“ in das neue Kunst-Quartier mit den schmucken Holztüren ist eigentlich ein Katzensprung, gleichzeitig ein großer Schritt. Nicht zuletzt die Nachricht, dass hier das Literarische Zentrum zusammen mit dem „Göttinger Literaturherbst“ einziehen wird, hat für eine gute Art von Gerede gesorgt, ist doch solch eine Kombination eher untypisch. 

Eines der größten Literatur-Festivals Niedersachsens und ein Literaturhaus arbeiten Hand in Hand. Für die Federführenden geht das in diesem Fall wirklich gut zusammen und darauf ist Anja Johannsen sehr stolz. Fürchtet man sich nicht vor Künstler-Klau oder Projekt- und Programm-Piraterie, soll das Quartier für alle Seiten ein Gewinn sein. Ein Ort, an dem Literaturfreunde und welche, die es werden möchten, eine gute Zeit miteinander haben können. Hier wird man zukünftig die Events des Zentrums erleben, aber auch nach den Veranstaltungen des Literarturherbstes zum Austausch und Verweilen zusammenkommen. Sogar das Anmieten der Räumlichkeiten für besondere private oder berufliche Anlässe wird möglich werden. Eine der nach wie vor größten Aufgaben des Zentrums liegt auf der Hand. 

„Wir möchten alles dafür tun, dass Menschen, die nicht so literaturaffin sind, zu uns hereinkommen und schauen, was man bei uns erleben kann. Ich wünsche mir, dass sich jedes Kind der Region bei uns willkommen fühlt. 

Wir möchten Schwellenängste auflösen und zeigen, dass es das alte Bild von Hochkultur bei uns nicht mehr gibt. Auch junge Menschen sollen sich unbedingt angesprochen fühlen. Und niemand soll denken, dass bei uns nicht gelacht werden darf, oder es nie fröhlich zugeht.“ Und im gleichzeitigen Gedanken an Loriot und das unvergessen Werk „Krawehl, krawehl!“ am Musenhain aus „Pappa ante Portas“ lachen wir beide, denn „So geht es bei uns definitiv nicht mehr zu!“ Steif, trocken oder gar muffig und spießig, das war einmal. Lesungen müssen unbedingt unterhalten, die Lesenden in der Lage sein, Stimmung zu erzeugen und Energie zum Fließen zu bringen. Was ist aber mit dem Eindruck, dass auf literarischen Events meist ernste und getragene Themen behandelt werden? Auch im Roman der Gewinnerin des Deutschen Buchpreises, Antje Rávik Strubels „Die blaue Frau“, dreht es sich zum Beispiel um sexualisierte Gewalt. „Ja, nachdem die Entscheidung öffentlich wurde, haben viele gefragt: ,Uh, und das sollen wir jetzt lesen?‘ Aber das ist ja das Allerbeste an guter Literatur. Dass man auch weniger schöne, sogar schlimme Dinge behandeln und darüber lesen kann. Über das Lesen wird kommunizierbar, worüber man sonst nicht sprechen möchte. Vielleicht tut es am Ende sogar gut oder macht auf besondere Weise froh. Es ist, trotz des Themas, nicht so, dass man sich beim Lesen schlecht fühlt. Gerade bei schwierigen Themen ist es wichtig, dass ein Schalter umgelegt wird und das bekommen die Autor*innen sehr gut hin. Man darf und soll spüren, dass die Beschäftigung damit nicht unangenehm ist. In ,Die blaue Frau‘ wird ja zum Beispiel nicht im Detail von sexualisierter Gewalt erzählt. Man darf sich in die Protagonistin hineinfühlen und irgendwann auch erkennen, was genau geschah. Aber egal wie furchtbar die eigene Situation auch ist, total allein und auf der Flucht vor den Erinnerungen, macht es so viel Mut darüber zu lesen, denn es gibt immer glückliche Zufälle und einen Weg raus.“ Und nein, es geht nicht immer gut aus. 

„Aber man kann Menschen in Büchern meist so nahe kommen wie selten im wahren Leben und ich glaube, dass das eine ganze Menge mit einer Leserin oder dem Leser macht. Man kann aus Büchern so viel mitnehmen, was im Leben hilfreich ist. Man ist bereichert und beschenkt, hat ein gutes Gefühl, ohne es genau benennen zu können. 

Das macht die Branche so wunderbar. Die unglaubliche Bandbreite der Themen.“ So schön dieser Umstand auch ist, so heftig war es dann wohl in der Funktion als Jury-Mitglied des Deutschen Buchpreises 2021. Anja Johannsen war sich der vielen Arbeit bewusst, die diese Berufung mit sich brachte. Als eine von „nur“ sieben Auserwählten lief die Juryarbeit monatelang immer im Kopf mit, las sie, wann immer sich eine Viertelstunde dazu fand. Meist abends und nachts aus über 200 eingereichten Werken. Von wie viel Respekt und einer Art Ansehen diese Aufgabe begleitet war, hat sie erst richtig realisiert, als ihr die Menschen dazu gratulierten. Auf der Gefühlsebene ist es ihr eher schwer gefallen, DAS beste Buch, den Roman des Jahres zu küren. „Es gefällt mir genau das, was ich normalerweise in meiner Arbeit mache: Den Menschen die ganze Bandbreite zeigen. Also aus 60 bis 100 Bücher im Jahr zu schöpfen. 

Ich zeige unserem Publikum im Literarischen Zentrum die Rosinen. 

Zum Glück muss ich da nicht untereinander werten, wie es beim Buchpreis funktioniert. Ich mag alle Rosinen wie sie sind. Eine ist vielleicht ganz klein und zusammengekrümelt, andere sind dicker und saftig, das macht sie aber nicht schlechter und es ist gut, dass es diese Unterschiede und ganz viele Rosinen gibt.“ 

www.literarisches-zentrum-goettingen.dewww.literaturherbst.com

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Über die Autorin /

Elke … freie Rednerin, Redakteurin. Hochzeitsverliebte, zuverlässige Frohnatur, die es immer nur ganz gibt.

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